Für ein soziales Europa

Luxembourg, 05/07/2008

Anrede

Die Gewerkschaften in Europa haben sich immer für die europäische Integration eingesetzt. Wir haben das Binnenmarktprojekt unterstützt, wir waren für die Europäische Währungsunion und wir waren ein aktiver Vorkämpfer für die Erweiterung der Europäischen Union.

Allerdings war unsere Unterstützung nie voraussetzungslos! Die Europäische Union war für uns immer mit der Entwicklung einer starken sozialen Dimension verbunden. Unser Ziel war es immer die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen in Europa zu verbessern, soziale Ungleichheiten zu überwinden und die Chancengleichheit für alle Bürgerinnen und Bürger zu fördern.

Und die Erfolge, die in den mehr als 50 Jahren europäischer Integration erreicht wurden, sollten nicht gering geschätzt werden. Sie waren vor allem deshalb möglich, weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von dem europäischen Projekt überzeugt waren und die Gewerkschaften sich aktiv am Aufbau eines sozialen Europas beteiligt haben.

Seit einigen Jahren hat die Europäische Union erheblich an Ansehen und Zustimmung bei den Menschen verloren. Ein aktuelles und deutliches Beispiel ist das Nein der Iren zum Lissabonner Reformvertrag der EU.

Aktuelle Umfragen haben gezeigt, dass auch die Iren nicht gegen Europa sind. Sie haben aber Zweifel, Skepsis und konkrete Befürchtungen, ob die aktuelle Entwicklung Europas noch ihren sozialen Interessen gerecht wird.

Bereits der EU Verfassungsvertrag ist an dem Votum der Bürgerinnen und Bürger in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. Und das nicht lediglich, weil es ein schlechter Vertrag war. Auch in Frankreich und den Niederlanden waren die deutlichen Zweifel an der sozialen Dimension mit entscheidend für das Nee und Non.

Als Gewerkschaften haben wir den Verfassungsvertrag und auch den Lissabonner Reformvertrag unterstützt. Der Vertag ist besser als sein Ruf und besser als der gültige EU Vertrag.

Es ist die Politik – die nationale und die europäische Politik -, die viele Menschen nicht mehr überzeugt! Und dafür gibt es gute Gründe!

Die Menschen fühlen sich von der EU alleingelassen mit den Risiken der Globalisierung, der Verlagerung von Unternehmen und Arbeitsplätzen und den Konsequenzen des Kasinokapitalismus, in dem nur noch das schnelle Geld und hohe Profite zählen.

Seit Jahren übt sich die Barroso Kommission in sozialpolitischer Abstinenz! Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem der Verbesserung des Umfeldes für Unternehmen und der Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen, gepaart mit einer weit reichenden Liberalisierungs- und Deregulierungspolitik.

Anrede

wir haben nicht vergessen, was ein Kommissar namens Bolkestein mit seiner Dienstleistungsrichtlinie im Schilde führte. Die Giftzähne konnten dieser Bolkesteinrichtlinie nur aufgrund der massiven Proteste der Gewerkschaften und der Ablehnung im Europäischen Parlament gezogen werden. Offensichtlich hat weder die EU Kommission, noch die Mehrheit der Regierungen der Mitgliedstaaten aus diesem klaren Nein zu Sozial- und Umweltdumping gelernt!

Sozialpolitisch tritt Europa auf der Stelle. Seit Jahren müssen wir uns gegen sozialen Rückschritt, gegen Verschlechterungen bei den Renten und der Arbeitslosenversicherung zur Wehr setzten. Im Jargon vieler Europapolitiker heißt das „Strukturreformen“. In der Praxis bedeutet dies nichts anderes als Deregulierung und die Einschränkung von sozialen Rechten.

Diese Politik wird seit mehr als 12 Monaten auch noch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unterstützt.

Kolleginnen und Kollegen.

Dies ist nicht nur eine neue Erfahrung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dies ist eine gefährliche und nicht zu akzeptierende Tendenz!

Deshalb unterstütz der Europäische Gewerkschaftsbund die Demonstration heute hier in Luxemburg, die von unseren Mitgliedsorganisationen aus Frankreich, Belgien, Deutschland und den Gewerkschaften in Luxemburg gemeinsam durchgeführt wird. Allen Kolleginnen und Kollegen sage ich im Namen des EGB ein herzliches Dankeschön für ihr Engagement!

Anrede

Eine Politik des sozialen Rückschritts in Europa und eine sozialfeindliche Rechtsprechung durch den EuGH werden nicht widerspruchslos hinnehmen!

Wenn ich von einer neuen Erfahrung und Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH spreche, dann erkenne ich ausdrücklich an, dass dieser Gerichtshof durch seine Urteile in den vergangenen Jahren durchaus einen Anteil an der sozialen Gestaltung der Europäischen Union hatte!

Ich erinnere nur an die zahlreichen progressiven Urteile zur Gleichbehandlung oder das Urteil zur Arbeitszeitrichtlinie der EU.

Offensichtlich vollzieht der EuGH aber aktuell einen Kurswechsel, den die Politik schon vor Jahren vollzogen hat.

Es ist schon abenteuerlich, wie die EU Kommission und der Europäische Rat der Arbeits- und Sozialministeter vor einigen Wochen auf die Rechtsprechung des EuGH zur Arbeitszeitrichtlinie reagiert hat. Statt das grundlegende Ziel der Richtlinie, den Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zu fördern wurde eine neue Form der Arbeitszeit erfunden: die inaktive Bereitschaftsdienstzeit und die maximale Arbeitszeit bei 60 Stunden festgelegt. Mit dem Schutz der Arbeitnehmern hat dies nichts mehr zu tun. Das Europäische Parlament muss dem novellierten Gesetz zustimmen. Und wir können die Abgeordneten nur dringend empfehlen diese sozialpolitische Geisterfahrt nicht mitzumachen!

Anrede

Mit seiner Entscheidung gegen die Umsetzung der Entsenderichtlinie hier in Luxemburg hat der EuGH erneut die Arbeitnehmerrechte in Europa geschwächt. Weil nach Auffassung der EU Kommission – was schon ein sozialpolitischer Skandal ist – die arbeitsrechtlichen Vorschriften hier in Luxemburg gegen die Entsenderichtlinie verstoßen, hat sie Klage beim EuGH eingelegt. Das hier im Land alle Unternehmen – auch ausländische – die hier geltenden Tarifverträge einhaltenden müssen ging der Kommission zu weit. Damit wird die Zielsetzung der Entsenderichtlinie ins Gegenteil umgekehrt und: es werden die soziale Rechte massiv geschwächt.

Es wäre falsch, einfach nur Richterschelte zu betreiben! Sondern die Kommission hat hier offensichtlich die Dienstleistungsfreiheit über die sozialen Schutzrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestellt. Und genau diese Kommission hält es nicht für nötig, sich endlich auf den Weg zu machen, um die Richtlinie zu überarbeiten, damit eine sozialfeindlich Rechtsprechung erst gar nicht erfolgen kann! Die Überarbeitung aber lehnt die Kommission ab. In dieser Woche hat sie eine neue Sozialagenda für das 21. Jahrhundert verabschiedet, die den neuen Herausforderungen der Globalisierung kaum gerecht wird. Die Staats- und Regierungschefs sind jetzt gefordert, um auf eine Klarstellung der Entsenderichtlinie zu drängen. Für de EGB besteht kein Zweifel daran, dass hier rasches politisches Handeln gefragt ist!

Mit dem Urteil des EuGH im April 2008 gegen das niedersächsische Vergabegesetz hatten die Richter die Regelung der Richtlinie nicht als Mindestschutz für die Beschäftigten, sondern de facto als maximal zulässigen Schutz definiert und somit Arbeitnehmerrechte „abgeurteilt“!

Auch im Fall Laval hat der EuGH im Dezember letzten Jahres einen Frontalangriff gegen die schwedische Tarifautonomie gerichtet. Und im Fall Viking wurde das Streikrecht der finnischen Arbeitnehmer bei Arbeitsplatzverlagerungen eingeschränkt.

Die Kommission verschließt offensichtlich die Augen vor diesen verheerenden sozialen Folgen dieser Rechtsprechung. In dem am Mittwoch verabschiedeten Sozialpaket wird jeglicher Bedarf zur Novellierung der Entsenderichtlinie abgelehnt. Damit beraubt sie sich nicht nur ihre politische Gestaltungsfähigkeit, sie setzt auch den sozialen Zusammenhalt aufs Spiel, die sie in so zahlreichen Grünbüchern und Hochglanzbroschüren immer fördern will. Wir sagen klar und deutlich: Politisches handeln ist gefragt und zwar sofort!

Wir werden es nicht hinnehmen, dass der EuGH die Dienstleistungsfreiheit über die sozialen Grundrechte wie Arbeitnehmerschutz und Tarifautonomie stellt und damit massiv in die nationale Tarifautonomie eingreift! Der EGB fordert, dass die Dienstleistungsfreiheit unter fairen Bedingungen stattfindet und nicht Lohndumping befördert! Politisches Handeln ist jetzt nötig um unzweifelhaft klar zu stellen: die sozialen Grundrechte dürfen nicht den wirtschaftlichen Freiheiten geopfert werden! Der soziale Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer muss einen höheren Stellenwert als die wirtschaftlichen Freiheiten des Binnenmarktes haben.

Eine Ergänzung des Lissabonner Reformvertrages der EU ist notwendig. Mit einer sozialen Fortschrittsklausel muss zweifelsfrei klar gestellt werden, welchen Stellenwert die sozialen Grundrechte in Europa haben. Damit würde auch dem EuGH eine verbindliche Richtschnur gegeben, mit der die sozialfeindliche Rechtsprechung – wie wir sie in den letzten Monaten erleben mussten – ein Ende gesetzt wird.

Sozialer Fortschritt in der EU bedeutet zweifelsfrei

- die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen,
- die wirksame Ausübung der sozialen Grundrechte, insbesondere das Recht, Tarifverträge auszuhandeln und gegebenenfalls mit kollektiven Maßnahmen durchzusetzen,
- den Schutz der Arbeitnehmer gegen unfairen Wettbewerb und die Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder sonstigen Gründen.

Und es muss sichergestellt werden: weder wirtschaftliche Freiheiten noch Wettbewerbsregeln haben Vorrang vor den sozialen Grundrechten. Die sozialen Grundrechte haben im Zweifelsfall Vorrang!

Wir fordern die Staats- und Regierungschefs der EU auf rasch zu handeln und ein soziales Fortschrittsprotokoll rasch zu verabschieden.

Dies wäre ein wichtiges Signal für eine Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts, in dem die Rechte der Arbeitnehmer gestärkt werden! Nur so lässt sich das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückgewinnen und nur so können die Menschen vor den sozialen Risiken der Globalisierung geschützt werden.

Wir sagen ja zu einem sozialen Europa!

Dafür sind wir heute zusammengekommen, um für ein Europa zu kämpfen, das die Interessen der Menschen endlich wieder in den Mittelpunkt stellt.

07.07.2008
Speech